Donnerstag demonstrieren ehemalige Heimkinder gegen Mißhandlungen und Mißbrauch.
Gespräch mit Michael Schmidt-Salomon
Interview: Gitta Düperthal
Michael Schmidt-Salomon liest in Berlin
Michael Schmidt-Salomon ist Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung. Die Stiftung vertritt die Ansicht, daß Religionen bis heute die kulturelle Entwicklung der Menschheit negativ beeinflussen. Sie ist Mitorganisatorin der Demonstration der ehemaligen Heimkinder am Donnerstag in Berlin
Auch am Wochenende gab es wieder neue Schlagzeilen über Kindesmißbrauch in katholischen Einrichtungen. Ehemalige Heimkinder wollen jetzt am Donnerstag in Berlin demonstrieren, weil viele von ihnen sexuell mißbraucht, als Arbeitssklaven ausgebeutet und mißhandelt wurden. Als Ursache dafür haben Sie die »schwarze Pädagogik« ausgemacht. Was ist darunter zu verstehen?
Der Begriff kennzeichnet einen in Westdeutschland bis in die späten 60er Jahre prägenden Erziehungsstil, der »Zucht und Ordnung« als oberste Maxime angibt. Vor allem die traditionelle christliche Pädagogik folgte der biblischen Anweisung »Wer sein Kind liebt, der züchtigt es!«. Oberstes Erziehungsziel war der unbedingte Gehorsam gegenüber der höchsten Autorität »Gott« sowie dessen »irdischen Stellvertretern«.
Wer sich gegen den Herrscher, den Klerus, gegen Eltern oder Erzieher auflehnte, »versündigte« sich nach diesem Verständnis, da die Macht dieser Autoritätspersonen direkt von »Gott« abgeleitet wurde. Bei derart autoritärer Erziehung ist es wahrscheinlich, daß es zu Gewalthandlungen kommt, häufig auch zu sexueller Gewalt.
Sexuellen Mißbrauch in katholischen Heimen allein auf »zölibatären Triebstau« oder Pädophilie zurückzuführen, ist verkürzt. Nicht jeder, der Kinder mißbraucht, ist pädophil. Meist geht es dabei weniger um Sex als um pure Machtdemonstration. Erst mit der Studentenbewegung veränderten sich die pädagogischen Vorstellungen. Die Prügelstrafe wurde abgeschafft und Kinder zunehmend als Rechtssubjekte akzeptiert.
Laut Tagesspiegel sieht Hessens Justizminister Jörg-Uwe Hahn (FDP) das anders: SPD und Grüne hätten Mitschuld, weil sie in den 80er und 90er Jahren in der Gesellschaft ein Klima geschaffen hätten, »das erst den Boden für solche Vorkommnisse bereitet hat«.
Das ist ähnlich unsinnig wie die Äußerung von Bischof Walter Mixa, der ausgerechnet die 68er für sexuellen Mißbrauch verantwortlich machen wollte. Fakt ist, daß in den Heimen der 50er und 60er Jahre schlimmere Zustände herrschten als in der Zeit danach. Was wir aus dieser Periode über systematische Menschenrechtsverletzungen in der Heimerziehung sowie über Zwangsarbeit und Vergewaltigungen von Kindern wissen, ist nicht vergleichbar mit dem, was in den letzten 30 Jahren passiert ist. Mixa & Co. sollten also dankbar sein, daß es die 68er Bewegung und die durch sie ausgelöste Heimrevolte gab. Ansonsten wären die Kirchen heute nicht nur mit einigen hundert, sondern mit Tausenden aktuellen Fällen von Kindesmißbrauch und -mißhandlung konfrontiert.
Warum sind Sie mit dem Zwischenbericht des »Runden Tisches« nicht einverstanden?
Darin wurde anerkannt, daß Zehntausende Kinder und Jugendliche im »System Heimerziehung« Schlimmstes erleiden mußten – allerdings vermieden es die Verfasser bewußt, juristisch verwertbare Begriffe wie »Menschenrechtsverletzung« und »Zwangsarbeit« zu verwenden. Daran erkennt man, daß die Vertreter von Staat und Kirche nicht gewillt sind, die Heimkinder so zu entschädigen, wie es internationalen Maßstäben entspricht. Mit der Demonstration protestieren die ehemaligen Heimkinder nun gegen diese Bagatellisierungsversuche. Aber es geht ihnen nicht allein darum, Vergangenheit aufzuarbeiten, sondern auch Weichen für die Zukunft zu stellen. Sie fordern: Nie wieder Erziehungsterror und Mißbrauch in Heimen und Internaten!
Papst Benedikt XVI. hat sich bereit erklärt, Mißbrauchsopfer zu treffen – reicht das aus?
Die evangelische und die katholische Kirche waren Teil eines Systems, das unzähligen Jugendlichen den Start ins Leben verdarb. Darunter leiden viele ehemalige Heimkinder bis heute. Gespräche reichen nicht aus. Die Kirche muß sich vielmehr aktiv an den fälligen Entschädigungszahlungen beteiligen! Daß sie sich vor dieser Verpflichtung drückt, ist skandalös. Wer einen so hohen moralischen Anspruch vor sich herträgt, darf nicht kneifen. Sollte die Kirche nicht freiwillig zahlen, muß sie dazu gezwungen werden. Menschenrechtsverletzungen sind keine Kavaliersdelikte!
Quelle: Junge Welt (hier komplett, da die Zeitung archivierte Beiträge nach geraumer Zeit kostenpflichtig macht)